Eiseskälte und Herzenswärme

Tränen zum Abschied. Als wir am Samstagmorgen von unserer „Gastschule“ mit dem Bus gen Moskau aufbrechen wollen, können sich die deutschen und russischen Jugendlichen nicht voneinander trennen. Minutenlange Umarmungen und Beteuerungen, den Kontakt zu halten, die neuen Freundschaften per WhatsApp zu pflegen. Die deutsche Städtebotschafterin Natalia Knaub, die für ein Jahr Osnabrück in Twer repräsentiert, treibt an. Der Busfahrer möchte starten, der Flieger von Moskau nach Düsseldorf wird nicht warten. Die Ursulaschüler steigen traurig in den Bus. Draußen winken uns noch einmal die Menschen, die wir vor zehn Tagen noch nicht kannten, die uns so unglaublich herzlich aufgenommen haben.

Seit 1991 besteht eine Partnerschaft zwischen den Städten Osnabrück und Twer in Russland. Schon länger waren Osnabrücker Jugendliche nicht mehr in der etwa 450.000 Einwohner zählenden Stadt zwischen Moskau und Sankt Petersburg. Nun waren vierzehn Schülerinnen und Schüler der Ursulaschule für neun Tage in Twer (eine musste leider kurz vor Reisebeginn krankheitsbedingt absagen). Sie kamen in den Familien von Schülerinnen und Schüler der Twerer Schule Nr. 35 unter.

Begleitet wurden die Osnabrücker Jugendlichen von ihrem Schulleiter Rolf Unnerstall, Lehrer Dr. Tobias Romberg und der Referendarin Katarina Eifert, die selbst als Kind zehn Jahre in Twer gelebt hat. Die Gruppe reiste offiziell als Delegation der Stadt Osnabrück im Rahmen einer internationalen Jugendbegegnung. Delegationsleiterin war deshalb Andrea Schiltmeyer aus dem Fachdienst Jugend der Stadt Osnabrück.

Der Bus fährt ein letztes Mal durch das schneeweiße Twer. Ein letztes Mal über die Wolga, den längsten Fluss Europas, der seit Monaten zugefroren ist und über den wir deswegen auch spazieren konnten. Außentemperatur -8 Grad Celsius. Es war in unseren ersten Tagen in Twer auch schon deutlich kälter.

Wenn man nun aus den Fenstern des Buses blickt, sieht man noch einmal einige schwere und große Prachtbauten, Hochhäuser, aber auch viele kleinere Gebäude, an denen mitunter der Putz von der Fassade bröckelt oder die aus Holz erbaut wurden.

Im Sommer 2016 waren Jugendliche von verschiedenen Twerer Schulen in Osnabrück, untergebracht in der Jugendherberge, nicht in Gastfamilien. Sie wollten gern engagierte Osnabrücker Jugendliche kennenlernen. Deswegen meldeten sich Verantwortliche der Stadt Osnabrück bei den Klimabotschaftern der Ursulaschule. Einige Ursulaschüler fuhren mit Lehrer Tobias Romberg und den russischen Gästen in den Sommerferien in den Heidepark Soltau. Am ersten Schultag nach den Sommerferien besuchen die Russen die Ursulaschule und lernten Schüler, von denen einige jetzt in Twer waren, kennen.

Monate nach diesem ersten Treffen dann die Anfrage der Stadt Osnabrück, ob die Ursulaschule es sich vorstellen könne, mit Jugendlichen nach Twer zu reisen. Kann sie. Das Seminarfach „Russland“ entsteht. Unter Leitung von Tobias Romberg recherchieren die 15 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 11 seit August 2017 zu Russland. Sie informieren sich über Geschichte und Politik, über Kultur und Umwelt. Und sie lernen Twer kennen – zunächst aus der Ferne. Die damalige Twerer Städtebotschafterin Valeria Eskina, die ihre Heimat ein Jahr lang in Osnabrück vertritt, besucht die Jugendlichen, berichtet über ihre Heimat, zeigt Bilder und Videos. Monate später werden diese Dateien zu konkreten Erlebnissen. Wir sehen die russische Stadtduma nun von innen und treffen Repräsentanten der Stadt. Wir entdecken Statuen und kulturelle Einrichtungen. Wir tauchen ab in das Twerer Freizeitleben. Und wir erleben am 8. März, dass der Weltfrauentag in Twer ein wichtiger Feiertag ist, an dem Frauen mit Blumen und anderen Geschenken überhäuft werden.

Die Ursulaschüler können einige russische Vokabeln. In den Monaten zuvor haben ihnen die Referendarin Katarina Eifert und Lehrer Zachar Ichilmann einiges beigebracht. Aber das reicht nicht aus, um sich in Twer zu verständigen. Die Aufregung war daher Monate vor der Reise groß: Wie werden wir uns in den Gastfamilien verständigen? Sprechen die da Englisch? Oder etwas Deutsch?

Die Aufregung legt sich, als Wochen vor der Fahrt bekannt wird, wer in welche Familie kommt. Die russischen und deutschen Jugendlichen gründen eine WhatsApp-Gruppe. Das Erstaunen ist groß – „die können ja richtig gut Deutsch“.

Das liegt an der Schule Nr. 35, deren Schüler und ihre Eltern uns aufnehmen. Die Schule hat einen ausgeprägten Deutsch-Schwerpunkt. Jeder Schüler lernt Deutsch. Das Fach wird im Abitur geprüft. Die Schule sieht von innen „deutscher“ aus als viele Schulen in Deutschland. An den Flurwänden hängen große Fotos vom Kölner Dom, der Frankfurter Skyline und weiteren Städten. Vor dem Büro der Direktorin sind Foto-Plakate zu Fahrten und Austauschen mit mehreren deutschen Städten. Bad Iburg ist auch dabei. Aber die Sache ist vor vielen Jahren irgendwie eingeschlafen. Es gibt Wandbilder vom Osnabrücker Dom und liebevolle Kinderzeichnungen zur Städtepartnerschaft von Osnabrück und Twer.

Das Klassenzimmer der Deutschlehrerin Alla Jegorowa ist ein kleines Deutschland-Museum. Im Raum befinden sich Vitrinen mit Souvenirs und Büchern aus vielen deutschen Städten. An den Wänden Karten von Deutschland. Neben der Tafel Pinn- und Magnetwände mit deutschen Postkarten und Magneten. Die Lehrerin spricht druckreifes Deutsch. Sie berichtet stolz, dass mehrere Schüler der Schule Nr. 35 bereits landesweite Sprachwettbewerbe gewonnen haben.

Vieles wirkt nicht viel anders als Schule in Deutschland. Der Umgang zwischen Schülern und Lehrern ist herzlich, aber auch von Respekt geprägt. Manche Dinge irritieren die deutschen Gäste. Im Musikunterricht wird ein doch recht martialisches und patriotisches Video gezeigt. In der Bibliothek steht eine Vitrine mit Kriegsrelikten – Patronenhülsen und alte Stahlhelme. Auch in Twer kann man viele Kriegsdenkmäler und Ehrentafeln für russische Soldaten entdecken.

Das deutsch-russische Verhältnis ist ein besonderes – das ist allen Reiseteilnehmern klar. Das Ende des Zweiten Weltkrieges ist 73 Jahre her, aber der Krieg ist im Stadtbild präsent. Das gegenwärtige deutsch-russische Verhältnis ist – zumindest auf politischer Ebene – unterkühlt. Doch das ist der Jugend egal. Unmittelbar nach der Ankunft in Twer entstehen Freundschaften. Aus Kontakten, die vorher über das Smartphone stattfanden, wird nun eine internationale Jugendbegegnung. Es begegnen sich nicht Russen und Deutsche, sondern Menschen, die neugierig auf ein anderes Land, eine andere Kultur und selbstverständlich auf Menschen sind. Die Jugendlichen machen gemeinsame Ausflüge in ein Bowling-Center und in eine Karaoke-Bar. In den einzelnen Familien besuchen sie den Twerer Zirkus, ein Eishockeyspiel und Kultureinrichtungen. Manche fahren am schulfreien Weltfrauentag auf Rodelbahnen oder zu Stätten des Weltkulturerbes. Einige besuchen auch die Oma der Gastfamilie und lernen traditionelle Spezialitäten der russischen Küche kennen.

Die Osnabrücker Betreuer sind im Hotel Osnabrück untergebracht und können sich vor der Fürsorge der Städtebotschafterin Natalia Knaub kaum retten. Sie hat für alle Beteiligten ein bemerkenswertes Programm auf die Beine gestellt.

Dazu gehörte auch eine Fahrt nach Moskau. Aufgrund des Stadtverkehrs braucht das Osnabrücker Team auf dem Hinweg fünf Stunden bis zum Kreml. Nach drei Stunden in Moskau steht eine vierstündige Rückfahrt mit dem Bus an. Der Stimmung tut so etwas keinen Abbruch. Bei einer kurzen Rast an einer Tankstelle (der Liter Super95 kostet knapp über 50 Cent) kaufen einige Kosakenhüte und ältere Kopfbedeckungen von Militär und Polizei. Schon in Moskau hatte sich ein Großteil der Gruppe Putin-T-Shirts gekauft. Militärkleidung tragend und auf einem Bären sitzend zeigt Putin Stärke. Der Personenkult ist ausgeprägt. In vielen Geschäften gibt es Aufkleber, Tassen, Shirt und sogar Matrjoschkas (die russischen Steckpuppen), die Putin zeigen.

Gut eine Woche nach der Abreise wird in Russland ein neuer (alter) Präsident gewählt. Einen lebendigen Wahlkampf wie in Deutschland gibt es nicht. Plakate rufen dazu auf, wählen zu gehen. Herausforderer Putins treten kaum in Erscheinung.

Politik spielt aber bei der internationalen Jugendbegegnung keine große Rolle. Es sind vielmehr die kleinen Anekdoten des Alltags. Einige russische und deutsche Jugendliche unterhalten sich so angeregt, dass sie an einem Nachmittag zwei Mal den Bus verpassen. Am Ende müssen sie ein Taxi ordern. Weil die internationale Jugendbegegnung so gut läuft. Beide Seiten hoffen auf ein baldiges Wiedersehen. Vielleicht in Osnabrück. Vielleicht im Januar 2019. Vielleicht wieder unter dem Dach einer internationalen Jugendbegegnung.

 

14 марта 2018